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Odyssee mit Happy End: Interview mit A. Lange & Söhne Produktchef Anthony de Haas

Odyssee mit Happy End: Interview mit A. Lange & Söhne Produktchef Anthony de Haas

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Jeder, der sich tiefer für mechanische Uhren von A. Lange & Söhne interessiert, kennt neben CEO Wilhelm Schmid den Niederländer Anthony de Haas. Denn für viele der inzwischen 72 vorgestellten Uhrwerke zeichnet er persönlich verantwortlich als Leiter der Produktentwicklung. Ob Zeitwerk, Grand Complication oder die erste Stahluhr Odysseus, viele wegweisende Entwicklungen hat er mitverantwortet. Dieses Jahr feiert de Haas selbst ein rundes Jubiläum, seit 20 Jahren ist er mit an Bord. Doch wie entstehen die Ausnahme-Uhrwerke von A. Lange & Söhne wirklich? Ein Gespräch über Tradition, Meetings ohne Agenda und den Lange-Virus.


Sie feiern dieses Jahr selbst ein rundes Jubiläum, seit 20 Jahren sind Sie für die Produktentwicklung bei A. Lange & Söhne verantwortlich und haben viele wegweisende Entwicklungen mitverantwortet. Auf welches der vielen Modelle sind Sie besonders stolz?

Auch wenn es abgedroschen klingt, vor allem bin ich zunächst einmal stolz auf die Mannschaft bei uns. Und dann kommen natürlich unsere Meisterleistungen, unsere Big Four wie ich sie nenne: Die Zeitwerk, die Grand Complication, die Lange 1 Ewiger Kalender mit Tourbillon und natürlich unsere erste Stahluhr, die Odysseus.

Was denken Sie über die Uhren vor Ihrer Zeit, die ja den Grundstein für das Comeback von A. Lange & Söhne legten? Wie gut waren diese Uhren in Ihren Augen?

Nehmen Sie den Original-Datograph von 1999, das war branchenweit der erste neu entwickelte Chronograph seit vielen Jahrzehnten, nicht nur in Deutschland. Das war die erste Uhr von A. Lange & Söhne, die ich in meinen Händen hielt. Und mit ihr muss ich sofort an Günter Blümlein denken. Denn er zeigte mir diese Uhr damals und das infizierte mich sofort mit dem Lange-Virus, obwohl ich damals gerade auf dem Sprung zu Audemars Piguet war und dort noch sieben Jahre arbeiten sollte, bevor ich zu Lange wechselte.

Ihre Karriere startete bei IWC, wo sie auch Günter Blümlein kennenlernten.

Ja, von 1996 bis 1998. Ich werde es nie vergessen: Er bat mich zu sich, da er wissen wollte, warum ich IWC verließ. Und ich sagte ihm wahrheitsgemäß, weil ich dort an komplizierten Uhren arbeiten könnte. Ich war damals Abteilungsleiter des After Sales-Services. Und er konterte: Aber sie können hier doch auch Komplikationen entwickeln. Und dann zeigte er mir einen Datograph-Prototypen am Arm und sagte: Alles in Sachsen entwickelt. Aber ich hatte meinen Vertrag bei AP schon unterschrieben. Er respektierte das und wir blieben im Austausch. Im November 2001 reiste ich das erste Mal hier nach Glashütte und es hat mich schwer beeindruckt. Anfang 2004 kam der Anruf und ich wechselte zu A. Lange & Söhne.

Was war das schwierigste Projekt in all den Jahren?

Die Odysseus, ohne Frage. Nicht so sehr von der Technik her, aber von der Art der Uhr, weil es eine komplett neue Idee für uns war, die es so vorher bei A. Lange & Söhne nicht gegeben hatte und die es lange nur als Gedankenspiel gab. Bei dem Projekt hätten wir außerdem sehr viele Fehler machen können, gerade wenn man diese erste Stahluhr mit den Projekten großer Manufakturen in Genf mit ihren teils seit über 50 Jahren ununterbrochenen Traditionen im Bereich der Stahluhren vergleicht. Viele dieser Uhren sind heute Ikonen.

Wie kam man bei Lange überhaupt darauf, eine erste Stahluhr zu entwickeln? Es scheint nicht so zu sein, dass Lange wirklich ein Modell in Edelstahl brauchte, sie entspricht nicht der Tradition des Hauses.

Als ich 2004 bei Lange anfing, ging es für mich darum, den Markt und die Kunden besser kennenzulernen. Sehr oft kam schon damals die Frage von Sammlern auf: “Ich habe zehn Lange-Uhren zuhause, aber keine für die schönste Zeit des Jahres, nämlich, um im Sommer am Strand zu liegen.” Damit war die Idee geboren. Und ich stellte in Meetings danach immer wieder Fragen: Wie gehen wir damit um? Machen wir eine Lange 1 auf Steroiden? So eine Art Lange 1 XL mit Kronenschutz? (Lacht) Aber im Ernst: Da kommt bei A. Lange & Söhne natürlich sofort die Frage auf: Welches Uhrwerk würde eine sportliche Lange-Uhr antreiben? Und dann fangen die Herausforderungen an: Darf man eine Langematik mit Großdatum in Stahl bringen, obwohl es sie schon in Platin gibt?

Warum hat das Projekt dennoch so lange gedauert, genau genommen dann ganze 15 Jahre?

Wir hatten eigentlich gar keine Zeit für so eine sportliche Uhr. Unser Team hatte unheimlich viel zu tun: Die Lange 31, die Zeitwerk, die Grand Complication, jede Uhr für sich schon ein Riesenprojekt für eine kleine Firma wie A. Lange & Söhne. Und vergessen Sie nicht: Hier arbeiten nur drei Uhrenkonstrukteure.

Sie schoben das Projekt vor sich hin.

Und fünf Jahre später, 2009, kam es wieder auf den Tisch: Und zwar in Form von etwas ganz anderem: Was später die Daymatic wurde, also die Lange 1 als Automatikuhr. Es gab nur eine erste Skizze, aber schon diese war uns Anlass genug, um zu sagen: Nein, das geht nicht. Wenn wir bei A. Lange & Söhne so etwas machen, muss man ein eigenes Gesicht kreieren, da kann man nichts Vorhandenes nehmen im Design.

Wie ging es dann weiter mit dem Projekt Odysseus?

2013 entwickelten wir die ersten Ideen mit einem Datums- und einem Tagfenster rechts und links der Zeigerachse, woraus später die Odysseus hervorging.

Wie waren die Reaktionen auf den Launch, hatten Sie damit gerechnet?

Als wir sie 2019 endlich gelauncht hatten, beschwerten sich natürlich einige. So ist das Leben. Am besten gefiel mir der Kommentar, in dem es hieß, das Band sei viel zu breit. Dabei hatten wir 20 Prototypen anfertigen lassen! Wer macht das schon bei einem Armband? Die Odysseus war wirklich eine lange Geburt, insgesamt gab es vor der Lancierung drei kreative Anläufe.

Was hat sich seit Ihrem Eintritt in die Firma bei A. Lange & Söhne grundlegend verändert, und was ist über die Jahre gleichgeblieben?

Vor allem der Markt hat sich radikal geändert, heute gibt es viel mehr unabhängige Uhrmacher da draußen. Das ist auch wunderbar, denn so wird der kreative Wettbewerb gefördert. Es gibt viel mehr junge Marken, bei denen die Gründer noch persönlich engagiert sind neben den großen Brands. Wir sehen uns bei A. Lange & Söhne genau in der Mitte.

Normalerweise keine Position, die Firmen gefällt: Sie könnten zwischen den Kleinen und Großen zerrieben werden!

Im Gegenteil: Wir haben verrückte Ideen wie die unabhängigen, aber wir haben auch die Professionalität im Vertrieb und Aftersales-Service wie die ganz großen Hersteller. Das ist eine sehr interessante Position, gerade für Sammler, die langfristig denken und ihre Uhren auch nach 20 Jahren oder in der nächsten Generation noch reparieren lassen wollen.

Und was ist gleichgeblieben, seit Sie zu A. Lange & Söhne gekommen sind?

Wir werden immer zeitlos bleiben, nie modisch. Natürlich machen wir auch mal ein blaues Aventurin-Zifferblatt mit einem schönen Glitzereffekt, weil es perfekt zu einer Dresswatch wie der Saxonia Thin passt.

Wie läuft die Entwicklung eines neuen Uhrwerkes bei A. Lange & Söhne ab? Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Die Uhrwerke entstehen immer aus Team-Ideen. An der Konstruktion ist ein Team von rund 10 Mitarbeitern beteiligt, fünf haben einen Uhrmacher-Hintergrund und haben sich weitergebildet. Die anderen fünf haben einen Hochschul-Hintergrund. Das ist für mich die perfekte Mischung, denn jede Gruppe hat jeweils eine andere Herangehensweise.

Sie sprechen von Synergien, aber machen Sie dann Workshops oder wie läuft die Entwicklung?

Da bin ich gar kein Fan von, das ist für mich alles Marketing. Ich mache zum Beispiel oft Meetings ohne Agenda. Für manche Mitarbeiter war das am Anfang sehr beängstigend. Manchmal bringe ich ein Uhrenmagazin mit einem bestimmten Themenschwerpunkt, aber das war es dann auch schon. Und dann redet man drüber: Unsere Leute machen einfach ihre Arbeit. Und wenn man sich tagtäglich mit Uhrwerken auseinandersetzt, kommt die Kreativität von selbst!

Spannend, aber kaum zu glauben: Nennen Sie bitte ein Beispiel für eine Uhr, bei der das so abgelaufen ist!

Genau so war es zum Beispiel bei der Lange 31. Da gab es diese Übersicht in einer Fachzeitschrift: 8-Tage-, 10-Tage-Gangreserve bei Uhren. Ein Mitarbeiter sagte im Meeting: Eigentlich müssten wir 31 Tage machen. Antwortet ihm der andere Konstrukteur: Das geht nicht. Und ich habe dann beiden gesagt: Wenn ihr mir in drei Wochen erklären könnt, warum das nicht geht, dann bin ich ruhig. Der eine Mitarbeiter kam dann bekanntlich mit einer sehr guten Idee.

Daraus ist ein Lange-Weltrekord entstanden mit dem bekannten Nachspannwerk, das wir aus Pendeluhren kennen, wie die hier im Stammhaus von Lange. War es wirklich so einfach?

Im Gegenteil! Wir hatten fünf Prototypen, die waren ein paar Monate vor der Messe fertig – alle waren funktionsfähig, manche hielten sogar 33 Tage durch. Aber ich bremste meine Kollegen mit der Aussage: Ja, jetzt brauchen wir zwei Jahre bis zur Serienreife. Denn wir testen unsere Uhren wirklich extrem. Wir hatten nun die Wahl. Entweder warten wir zwei Jahre mit dem Risiko, dass es jemand anderes macht oder wir zeigen die Prototypen auf der Messe und sagen den Kunden, ihr könnt bestellen, aber wir werden erst in zwei Jahren ausliefern.

Was Sie schließlich auch taten. Klingt dennoch riskant. Gehen Sie bei A. Lange & Söhne gerne solche Risiken ein?

Nein! Eigentlich ist das gegen unser schon fast heiliges Prinzip, etwas zu launchen, was nicht fertig ist. Aber in dem Fall wollten wir einfach weltweit die Ersten sein.

Viele Hersteller arbeiten bei der Uhrwerksentwicklung modular. Können Sie aus der einen Entwicklung wichtige Erfahrungen in die nächste Entwicklung mitnehmen?

Zumindest befruchtet eine Idee oft die nächste. Die Lösung der Lange 31 hat indirekt eine andere Entwicklung angestoßen: Bei der Zeitwerk hatten wir ein ganz anderes Problem: Wo bekommen wir die Energie her, die die Ziffernscheiben bewegt? Wir haben das Remontoir-System weiterentwickelt, um hier alle zehn Sekunden nachzuspannen. Und weil wir unsere Spiralfedern selbst herstellen können, können wir natürlich auch diese Remontoir-Federn inhouse produzieren.

Nach welchen Kriterien entscheidet A. Lange & Söhne, ob ein neues Uhrwerk realisiert wird?

Die Basis für neue Ideen bleiben unsere sechs Produktfamilien, die jeder bei uns auswendig kennt: Die Richard Lange, die 1815, die Lange 1, die Odysseus, die Saxonia und die Zeitwerk. Diese sind in bestimmte Marktsegmente aufgeteilt. Lange vor jeder technischen Frage steht auch eine kaufmännische: Für wie viel Geld kann ich diese Idee verkaufen? Dabei gilt die Regel: Ein Sammler muss auf Anhieb erkennen, dass es sich bei dieser Uhr um etwas Spezielles handelt. Der wichtigste Satz, den wir bei Verkäufern in der Boutique vermeiden wollen, ist: Ja, aber.

Was meinen Sie damit?

Bei A. Lange & Söhne muss eine Innovation offensichtlich, funktional und logisch nachvollziehbar sein. Das ist ein wichtiger Unterschied zu anderen Manufakturen. Wir müssen zusätzlich unsere Innovationen ohne Qualitätskompromisse hinbekommen. Die Diskussion, dass der Wettbewerb dieses oder jenes billiger anbieten könnte, darf gar nicht erst aufkommen.

Inzwischen wissen wir, dass viele Manufakturen ihre Tourbillons gut subventioniert haben, denn so kompliziert wie sie aussehen, sind sie oft eben nicht. Heute sind zum Beispiel Mondphasen sehr beliebt. Vergleichen Sie die am Markt gerne mit den Mondphasen in Uhrwerken von A. Lange & Söhne. Tagsüber sehen Sie bei uns keine Sterne, sondern eine Tag-Scheibe mit hellblauem Himmel. Wir nennen es „diskrete Komplikationen”. Aber auch bei einer solchen Idee muss am Ende der Preis stimmen.

A. Lange & Söhne hat die Werke bestimmter Modelle wie der Lange 1 oder der Zeitwerk inzwischen überarbeitet. Nach welchen Kriterien verbessern Sie Uhrwerke?

Zur Überarbeitung der Lange 1 haben wir im Jahr 2012 zuerst die Konstrukteure gefragt: Wenn ihr die Uhr jetzt entwickeln müsstet, wie würdet ihr es heute machen? Die zweite Frage ging an die Monteure: Wenn ihr etwas verändern könntet, was wären die wichtigsten Punkte?

Also optimieren Sie die Fertigung? Abnehmende Verkaufszahlen spielen keine Rolle?

Nein, natürlich gibt es immer Dinge, die man verbessern kann. Aber als wir die Uhr 2015 vorstellen, verkaufte sie sich genau so gut wie vorher. Und natürlich hatte das zur Konsequenz, dass wir auch die Lange 1 Zeitzone und die Mondphase überarbeiten mussten, denn die basierten auf dem alten Werk der Lange 1. Wir wollen unsere Kunden eben immer wieder überraschen.

Viele Entwicklungen in der Feinuhrmacherei gehen in die Richtung, neue Werkstoffe in die Konstruktion einzubeziehen, wie zum Beispiel Silizium-Unruhspiralen. Warum hat sich A. Lange & Söhne diesem Trend widersetzt?

Wir sehen Silizium eher in der Massenproduktion, nicht bei uns. Wir investieren lieber in gute Leute, die lernen, eine Breguet-Endkurve biegen zu können. Das sind Fähigkeiten, die jahrelang entwickelt werden müssen. Im Luxusbereich gibt es eben keine Shortcuts. Abgesehen davon sehe ich bei Materialien wie Silizium keinen wirklichen Bedarf: Denn der größte Einfluss im Magnetismus wirkt doch auf die Unruhwelle, nicht die Spiralfeder.

War das Thema Inhouse-Fähigkeiten auch der Grund, warum Sie die erste Grand Complication nicht zusammen mit einem externen Experten in der Schweiz gefertigt haben?

Ja, natürlich hätte ich auch meine alte Firma Renaud & Papi anrufen können und das Produkt dort in Auftrag geben. (Lacht) Aber wir haben lieber acht Jahre daran gearbeitet, um es selbst zu können. Wir haben die erste Grand Complication nicht nur für die Außenwirkung getan, so wichtig das ist, sondern um zu beweisen, was wir hier in Glashütte alles können: Wir könnten heute die kompletten Uhren, die Ferdinand Adolph Lange selbst gebaut hat, nachbauen. Weil wir alle Fertigkeiten dazu besitzen. Es war zudem die erste Uhr von A. Lange & Söhne mit einem Schlagwerk-Mechanismus, also Grande Sonnerie, Petite Sonnerie und Minutenrepetition. Denn Schlagwerke haben dabei keine Tradition in Glashütte, denn viele historische Taschenuhrwerke mit Schlagwerk stammen aus der Schweiz. Daher ist diese Uhr auch ein wichtiger Meilenstein für Glashütte.

Wenn Sie einer Person aus der bald 180-jährigen Geschichte von A. Lange & Söhne eine Frage stellen könnten, wer wäre das, und was würden Sie von ihr wissen wollen?

Ich würde wirklich gerne noch einmal Günter Blümlein treffen wollen und ihn fragen, was er davon hält, wie wir uns weiterentwickelt haben. Wie haben wir seine Pionierarbeit weitergeführt? Wäre er zufrieden mit uns?

Er hätte wohl kaum einen Grund sich zu beschweren bei mittlerweile 72 Uhrwerken!

Er würde wahrscheinlich staunen. Als ich anfing, waren wir zirka 330 Mitarbeiter, heute arbeiten allein in Glashütte 600. Wir haben hier alle irgendwie ein bisschen einen Schuss, aber die Leidenschaft für mechanische Uhren ist eben ansteckend.


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