Wäre es nicht einem Zufall geschuldet, würde Enrico Barbasini heute vermutlich als Musiker auf der großen Bühne stehen, wie schon sein Vater, und nicht im Rampenlicht als einer der begabtesten Uhrmacher unserer Zeit. Zum Glück hat uns – und der Uhrenwelt – eine zufällige Begegnung Enrico Barbasini geschenkt, als sein Vater (er war Opernsänger) bei einer Tournee in Zürich in den 1970er Jahren einen jungen Mann mit Engelsstimme kennenlernte, der zwar gelernter Uhrmacher war, aber sich inmitten der Quarzkrise und mangelnden Aufträgen mit dem Singen finanziell über Wasser hielt. Schließlich war es diese Begegnung, die letztendlich dazu führte, dass auch Barbasini Uhrmacher wurde und später sogar eine Anstellung bei Gérald Genta bekam, wo er auch seinen Weggefährten Michel Navas kennenlernte, einem ebenso begnadeten Uhrmacher, mit dem Barbasini heute die La Fabrique du Temps Louis Vuitton führt, wo außergewöhnliche Zeitmesser entstehen. Aber was hat die beiden Uhrmachermeister mit ihrer Passion für die großen Komplikationen dazu bewegt, für eine Luxus-Maison wie Louis Vuitton zu arbeiten, die die meiste Zeit ihres Bestehens nichts mit mechanischen Uhren zu tun hatte?
Ein Faible für das Komplizierte
Anders als Enrico Barbasini wurde Michel Navas die Uhrmacherei quasi in die Wiege gelegt. Da sein Vater Uhrmacher war, kam er schon früh mit mechanischen Uhren in Berührung. Auch sein Bruder ist heute als Uhrmacher tätig. Nach dem Studium an der Horology School in Besançon sammelte Navas in den 1990er Jahren Erfahrungen bei Audemars Piguet, Patek Philippe, Frank Muller und Gérald Genta, wo er schließlich auch Enrico kennenlernte. Die beiden Uhrmacher entwickelten eine besondere Passion für hochkomplexe Mechanismen. Bei AP und Patek waren Barbasini und Navas für die High Complications der Uhrenmanufakturen tätig. Schon damals zeichnete sich ab, dass zwischen beiden Persönlichkeiten eine ganz bestimmte Chemie herrscht, was sie zu einem unzertrennbaren Duo machte und 2004 in der Gründung eines gemeinsamen Unternehmens mündete. Zusammen mit dem Uhrmacherkollegen Mathias Buttet, der zuvor als technischer Direktor bei Franck Muller arbeitete, gründeten Navas und Barbasini BNB Concepts, das sich aus den Anfangsbuchstaben ihrer Nachnamen zusammensetzte. Dort stellten sie High Complications Uhrwerke für Uhrenmarken her. Sogar Rexhep Rexhepi (Akrivia) arbeitete rund zwei Jahre als Uhrmacher bei BNB Concept.
Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten verließen Navas und Barbasini aber im Jahr 2007 BNB Concept und gründeten zeitgleich La Fabrique du Temps – dieses Mal aber ohne einen Dritten im Bunde. Mathias Buttet führte BNB Concept noch bis 2010 weiter, als das Unternehmen in finanzielle Schieflage geriet und von Hublot aufgekauft wurde, samt dem letzten verbleibenden Gründer an Bord, Mathias Buttet, der inzwischen Direktor R&D bei Hublot ist.
Laurent Ferrier Kaliber LF 619.01 – entwickelt in Zusammenarbeit mit Navas und Barbasini
La Fabrique du Temps etablierte sich zu einem angesehenen Watchmaking Workshop mit Fokus auf Tourbillons und Repetitionsuhren für verschiedene Uhrenmarken – für bis zu 13 Marken in der Hochphase. Für ihren Freund und Independent Watchmaker Laurent Ferrier, mit dem sie zuvor gemeinsam bei Patek Philippe arbeiteten, entwickelten sie das legendäre Tourbillonwerk LF 619.01. Im Jahr 2008 startete sogar sein Sohn Christian Ferrier als Uhrmacher in der La Fabrique du Temps, um Erfahrung zu sammeln.
Louis Vuitton klopft an der Tür
Dann geschah etwas Unerwartetes. Hamdi Chatti, der damalige Vize Präsident von Louis Vuitton Jewelry & Watches trat an Navas und Barbasini heran, ob sie sich vorstellen könnten, La Fabrique du Temps unter ihrer Führung an den LVMH-Konzern zu verkaufen. Chatti hatte zuvor bei Piaget, Harry Winston und Montblanc gearbeitet und brachte die nötige Erfahrung und das Interesse für das Uhrensegment mit.
Louis Vuitton startete 2002 als Etablisseur ins mechanische Uhrengeschäft und bezog Uhrwerke von ETA, Dubois-Dépraz, La Joux-Perret und Zenith. In La Chaux-de-Fonds führte LV einen Watchmaking Workshop für die Assemblage der Uhren, doch die Luxusmaison hatte größeres vor und wollte langfristig in der Liga der Haute Horlogerie mitspielen. Das ging natürlich nur mit der nötigen Kompetenz, die der Konzern damals in den beiden Uhrmachermeistern und ihrem Workshop La Fabrique du Temps sah. Navas und Barbasini stimmten zu und somit erwarb LVMH im Jahr 2011 ihren Workshop. Zu den Beweggründen sagt Michel Navas heute, „Louis Vuitton war damals für ihre Reisekoffer, Mode und Lederaccessoires bekannt, nicht aber für High Watchmaking. Es war für sie ein komplett neues Feld und das reizte uns, denn wir konnten unsere Visionen und Kreativität voll und ganz ausleben. Wenn du für eine Marke arbeitest, die eine lange Tradition hat, dann bist du gewissermaßen eingeschränkt, da du ihre Werte respektieren musst. Es war eine Herausforderung, aber auch eine tolle Möglichkeit für uns“.
Dazu kommt, dass Navas und Barbasini für ihren ausgefallenen Spin Time Mechanismus noch ein passendes Gehäuse suchten. Die Idee für die Spin Time, bei der kleine rotierende Würfel die Zeit anzeigen, kam Navas im Jahr 2009, als er während einer Reise am Flughafen die Abflugtafel beobachtete, auf dem ein Drehmechanismus die Liste der Städte und Abflugzeiten anzeigte. Das unverwechselbare Tambour Gehäuse von Louis Vuitton eignete sich perfekt, denn es lieferte aufgrund seiner trommelförmigen Form ausreichend Platz für den voluminösen Mechanismus.
Ein neues Manufakturgebäude
Im März 2012 kaufte LVMH die beiden Zifferblatthersteller ArteCad und Léman Cadran, um die eigene Uhrmacher-Kompetenzen weiter auszubauen. Im Oktober 2014 weihte Louis Vuitton dann feierlich eine 4.000 Quadratmeter große Uhrenfabrik in Meyrin, einem Vorort von Genf ein. Der ursprüngliche Standort in La-Chaux-de-Fonds wurde aufgelöst bzw. darin eingegliedert. Es war eine Bedingung von Navas und Barbasini für die Übernahme ihrer La Fabrique du Temps, dass das neue Manufakturgebäude im Kanton Genf liegen muss, denn sie wollten ihr jahrelang erarbeitetes Savoir-Faire im Bereich der Uhrwerksherstellung vom Genfer Siegel adeln lassen, den auch heute noch aufgrund ihrer strengen Kriterien nur eine Handvoll Uhrmacher besitzen.
Bereits fünf Jahre nach der Übernahme von LVMH stellten Navas und Barbasini 2016 mit der Voyager Flying Tourbillon die erste Uhr von Louis Vuitton vor, die mit dem Genfer Siegel zertifiziert wurde. Ihr Ideenreichtum scheint unerschöpflich zu sein und in Louis Vuitton haben die beiden Uhrmacher ihre Spielwiese gefunden. Und verspielt sind ihre Kreationen allemal, von der Spin Time bis hin zu den Automaten wie der Tambour Opera, der Tambour Carpe Diem oder der Tambour Fiery Heart, auf dessen Zifferblätter auf Knopfdruck eine Fülle an Animationen das Auge entzücken. Die Tambour Spin Time und die Automaten gehören zu den größten Erfindungen, die Navas und Barbasini in der La Fabrique du Temps für Louis Vuitton hervorgebracht haben.
Der Twin Time Chronograph allerdings, wie Navas selber sagt, ist wohl die komplizierteste Uhr im Portfolio. Er wurde speziell für den America‘s Cup entwickelt und mit einem einmaligen Chronographen-Mechanismus ausgestattet, der zwei verschiedene Zeiten (zweier konkurrierender Regattaboote) misst und die Differenz zwischen diesen beiden gemessen Zeiten anzeigt. Die Tambour Street Dive und Tambour Carpe Diem haben Preise beim renommierten Grand Prix d’Horlogerie de Genève (GPHG) abgeräumt. Und als ob das die beiden Uhrmacher nicht schon genug auslasten würde, verantworten Navas und Barbasini seit letztem Jahr auch die Uhrwerke der neuen Gérald Genta und Daniel Roth Uhren – LVMH hatte kurz zuvor die Lizenz der beiden Marken erworben. Selbst Dior, die zum Mutterkonzern LVMH gehört, lässt ihre Tourbillon Uhrwerke in der La Fabrique du Temps herstellen.
Komplexe Werke treffen auf traditionelle Handwerkskunst
Auch heute finden sich zwar noch Uhrwerke von externen Zulieferern in den Uhren von Louis Vuitton. Aber man arbeitet ehrgeizig daran, mehr und mehr in-house zu produzieren. Von den derzeit rund 30 Uhrmachern in der La Fabrique du Temps beherrschen nun mal nur eine Handvoll Uhrmacher die aufwendigen Uhrwerke mit dem Poinçon de Genève-Siegel. Neben der uhrmacherischen Expertise, setzt LV auch auf Métiers d’Art aus dem eigenen Haus. In der La Fabrique du Temps werden nicht nur Zifferblätter hergestellt, sondern auch aufwendig finissiert: Gravuren, Emaillierarbeiten, Miniaturmalerei und Edelsteinfassung sind schon voll integriert. Derzeit wird der Bereich für die Guillochierung weiter ausgebaut, wofür die Manufaktur alte Guillochiermaschinen ausfindig macht, kauft und in-house restauriert. Rund 200 Mitarbeiter zählt die La Fabrique du Temps Louis Vuitton heute. Soeben hat Louis Vuitton die neue Voyager Flying Tourbillon Poinçon de Genève Plique-à-jour vorgestellt, dessen Zifferblatt im aufwendigen Emailleverfahren hergestellt wird, was nur noch wenige Kunsthandwerker heute beherrschen. Zirka 100 Stunden Arbeit stecken in einem Zifferblatt.
Bei all diesen Meilensteinen und der Aufmerksamkeit, die Navas und Barbasini heute bekommen, sind die beiden Uhrmacher immer auf dem Boden geblieben, sehr authentisch und wahnsinnig sympathisch. Das weiß jeder, der die Beiden einmal persönlich kennenlernen durfte. Auf die Frage, welche Komplikation Michel Navas persönlich am liebsten mag antwortet er: „Eine einfache Dreizeiger-Uhr. Ich liebe einfache Uhren. Ich kann alle möglichen Komplikationen entwickeln und bauen, aber das Schwierigste an der Uhrmacherei ist es, einfache Dinge zu kreieren.“