Kinder klettern in Baumkronen hinauf, ohne sich Sorgen um die eigene Sicherheit zu machen. Sie stellen unendlich viele Fragen, denn wie heißt es ganz richtig im Sesamstrasse-Song: „Wer? Wie? Was? Wieso? Weshalb? Warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm!“ Obendrein haben sie Fantasie, weil es zum Kind sein gehört, möglichst immer nach den Sternen zu greifen – statt an Wahrscheinlichkeiten, Verpflichtungen und Einschränkungen zu denken. Maximilian Büsser hat diese kindliche Unbekümmertheit zum Firmen-Motto für seine Uhrenmarke MB&F gemacht, es lautet: „Ein kreativer Erwachsener ist ein Kind, das überlebt hat.“ Das klingt zunächst einmal charmant, und ist vor allem ziemlich ungewöhnlich für ein Unternehmen in der sich gern bewusst senior präsentierenden Uhrenbranche. Für Büsser aber ist es eine ganz grundsätzliche Frage der Haltung. Vor 20 Jahren hat er MB&F gegründet. Damals hatte er wenig mehr als eine Zeichnung von der Idee für seine erste Uhr und – höchst optimistisch gerechnet – maximal die Hälfte der für deren Herstellung benötigten finanziellen Mittel. Auf die Feststellung, dass dieses Wagnis ziemlich mutig gewesen sei, antwortet er: „Nein, das war entweder komplett wahnsinnig oder auch einfach etwas dumm.“ Man könnte aber auch sagen: Er hat damals wie ein Kind gehandelt. Impulsiv, denn das Herz wollte es so, die Ratio war gerade verhindert, und kein Bedenkenträger konnte ihn bremsen.

Inzwischen ist MB&F eine der erfolgreichsten Nischenmarken der Welt und prägt das Segment der sogenannten „Independents“. Wer mit Sammlern von Büsser‘s „Horologischen Maschinen“ spricht, der hört dabei oft Schwärmereien. Ein Aufenthalt in den Werkstätten von MB&F sei wie Charlies Besuch in der Schokoladenfabrik. Büsser ein Unternehmer, aber mehr noch ein Überzeugungstäter. Und seine von Raumschiffen, Bulldoggen und Rennwagen inspirierten Zeitmesser nicht weniger als moderne Kunst am Handgelenk. Was also hat dieser Mann da in den vergangenen zwei Jahrzehnten genau geschaffen – und wieso lächeln selbst die ernsthaftesten Uhren-Enthusiasten verzückt, wenn die Rede von Produkten dieser Marke ist?

Mensch, Max! Büsser, der Netzwerker

Wenn Maximilian Büsser von den Anfängen von MB&F spricht, dann wird noch einmal deutlich, wie radikal sich die Uhrenwelt in den vergangenen Jahren gewandelt hat. Im Jahr 2005 gab es kein Instagram, keine weltweit vernetzte Sammler-Gemeinschaft, und auch noch keine Online-Uhren-Magazine wie Swisswatches Magazine. Noch viel weniger gab es einen verlässlichen Kundenkreis, der um Allokationen von kleinen, unabhängigen Uhrenherstellern wetteiferte. Die Feinuhrmacherei wurde stattdessen von den Großen der Branche dominiert. In genau dieser Welt bewegte sich Maximilian Büsser als Netzwerker zwischen den Freigeistern.

Büsser selbst ist dabei kein Uhrmacher, dafür aber ein begnadeter Umsetzer. MB&F, das steht für Maximilian Büsser & Freunde, es ist die Essenz aus seinen Erfahrungen in der Branche, und der Name ist Programm: Jede Uhr feiert das Ergebnis einer Zusammenarbeit vom Unternehmensgründer und mindestens einem talentierten Freund.

Bevor er Unternehmer wurde, arbeitete der Schweizer erst für Jaeger-LeCoultre und dann für Harry Winston, den berühmten Juwelier aus New York. Dort verantwortete er bereits mit Anfang dreißig die Uhrensparte, vervielfachte den Umsatz von ebendieser, und vor allem schuf er die Opus-Serie: Jedes Jahr verpflichtete er einen herausragenden unabhängigen Uhrmacher, um für das Schmuckhaus Harry Winston anspruchsvolle Uhrenkonzepte in Kleinstserien zu entwickeln. Den Anfang machte ein gewisser François-Paul Journe, der heute selbst ein Star in der Welt der Independents ist.

Mit diesem Opus-Programm schuf Büsser eine Bühne für die bis dahin weitgehend unbeachtete Welt der unabhängigen Uhrmacherei, und er merkte zugleich, wo er seine eigene Zukunft sah: In ebendieser Unabhängigkeit, und das mit seiner eigenen Marke, die sich nicht anmaßen sollte, alles selbst am besten zu können und zu machen, sondern stattdessen die Bedeutung von Freunden und Verbündeten betont. Lange bevor „Collabs“ zum ultimativen Marketing-Tool wurden erkannte Büsser also die Kraft der Kooperation.

Büsser gibt dabei zu: „Ich habe zwar eine ausgeprägte Vorstellungskraft, doch auch in meinen wildesten Träumen habe ich mir damals nicht vorstellen können, was daraus inzwischen geworden ist.“ Stattdessen hatte er nur das grobe Konzept für das im Kopf, was als „HM1“ sein Erstlingswerk werden sollte. Er sagt: „Die meisten Gründer haben eine Idee, wie die nächsten fünf bis zehn Jahre aussehen sollen. Bei mir war es gerade mal ein Jahr.“ Unterdes drängte man bei Harry Winston auf eine Vertragsverlängerung, Non-Compete-Klausel inklusive, mit der sich Büsser dazu verpflichtet hätte im Falle seiner Kündigung bis auf weiteres nicht weiter in dieser Branche zu arbeiten, und seinem ehemaligen Arbeitgeber Konkurrenz zu machen. Schlimmer noch: Er hätte auch nicht auf Kontakte aus seiner Arbeit an den Opus-Modellen zurückgreifen dürfen. Das erhöhte den Druck eine Entscheidung zu treffen, und so kündigte er im Mai 2005, um sich noch im Juli selbständig zu machen.

Wenn Max Büsser von damals und von gleichgesinnten Gründern wie François-Paul Journe, den Urwerk-Machern Martin Frei und Felix Baumgartner, Greubel Forsey oder auch DeBethune spricht, dann immer voller Begeisterung über den gemeinsamen Willen zur Disruption des Status Quo. MB&F und diese Gleichgesinnten nennt er das horologische „Rat Pack“ der späten 1990er und frühen 2000er Jahren. Die Bereitschaft zu erfinden, erschaffen und anders zu denken sei bis heute prägend. Nie habe man seinerzeit etwas anderes erwartet, als dass es unendlich schwierig und anstrengend werden würde sein Unternehmen wirtschaftlich profitabel zu halten: „Das war damals einfach der Preis dafür, dass wir die Uhren machen konnten, an die wir glauben, und ausschließlich mit Menschen zu arbeiten, die wir mögen.“ Büsser sei damals mit Economy-Class Tickets um die ganze Welt geflogen, um nur ein paar verrückte Leute zu finden, die an ihn und seine Entwürfe glauben und seine Uhren kaufen würden. Heute ist die Uhren-Welt bekanntermaßen eine komplett andere, „Independents“ werden von Sammlern umworben, die Geschäftsmodelle ändern sich, und Büsser ist eine gewisse Verwunderung über die jüngeren Entwicklungen in der unabhängigen Uhrmacherei anzumerken wenn er sagt: „Hätte man uns damals gesagt, dass die nächste Generation unabhängiger Uhrmacher 38-Millimeter-Modelle im Vintage-Look präsentiert, und dafür gefeiert wird, dann hätten wir es nicht geglaubt. Wir sind immer noch Rock‘n Roll – vieles was heute passiert ist aber eher R’nB.“

Die MB&F-Schaffenskraft: Von „Horological Machines“ und „Legacy Machines“

In 20 Jahren MB&F-Geschichte wurden rund 4.000 Uhren hergestellt. Aktuell liegt die Jahresproduktion der Independent-Rocker aus Genf bei rund 400 Exemplaren pro Jahr. Das ist nicht viel. Was das Unternehmen aber noch einmal einzigartiger macht, das ist der Umstand, dass man für diese 4.000 Uhren inzwischen 22 verschiedene Kaliber entwickelt hat. Wo andere Hersteller die hohen Entwicklungskosten für ein neues Uhrwerk durch die Nutzung in möglichst vielen verschiedenen Modellen und in möglichst hoher Stückzahl betriebswirtschaftlich rechtfertigen, da geht Büsser einen anderen Weg: Für seine bislang zwölf „Horological Machines“ bat er befreundete Uhrmacher das passende, immer unfassbar komplexe Kaliber für sein jeweiliges Konzept zu konstruieren. Dass diese dann nur in kleiner Stückzahl hergestellt werden, viele von ihnen nur ein paar dutzend Mal, und Aufwand und Risiko entsprechend beträchtlich sind? Das gehört zum besonderen Reiz dieser Marke, bei der einer Idee möglichst nicht mit einem „ja, aber…“-Einwand begegnet wird, sondern mit einem „ja, genau so sollte es sein!“. Auch wenn das bedeutet, dass man lange Zeit erst kurz vor Ende eines Geschäftsjahres absehen konnte, ob man in den schwarzen Zahlen bleibt.

Die „HM1“ war die erste Uhr der Marke, quasi der „Proof of Concept“, und bei ihrer Präsentation im Jahr 2007 eine kleine Sensation: Rund um ein zentrales Tourbillon angeordnet finden sich zur linken und zur rechten zwei Zifferblätter, eines mit einer retrograde Stundenanzeige, das andere mit retrograder Minutenanzeige sowie einer Anzeige für die Gangreserve, die bei diesem Modell ganze sieben Tage beträgt. Es war die erste Uhr mit vier miteinander verbundenen Federhäusern, und die erste Armbanduhr bei der Energie von zwei verschiedenen Quellen gleichzeitig ans Regulierungssystem übertragen wird. Als Freunde und Unterstützer vertraute Büsser bei diesem Modell auf den Bewegungsingenieur Laurent Besse, den Uhrmacher Peter Speake sowie den Designer Eric Giroud. Letzterer ist bis heute eine gestalterische Instanz bei MB&F, und hat für MB&F alle Uhren gestaltet.

Nur ein Jahr später folgte die zweite horologische Maschine, und auch diese HM2 fiel durch eine gänzlich neue Gehäuseform auf, doch statt auf Rundungen setzte Büsser – dieses Mal im Verbund mit Jean-Marc Wiederrecht, Maximilien Di Blasi und Patrick Lété – auf eine Uhr mit der Anmutung eines DJ-Pultes, dessen Gehäuse allein aus über 100 Einzelteilen besteht. Das linke Zifferblatt verfügt hier über eine retrograde Datumanzeige sowie eine Mondphasen-Anzeige für nördliche und südliche Hemisphäre, während das rechte Zifferblatt über eine konzentrisch-retrograde Minutenanzeige und springende Stundenanzeige verfügt. Insgesamt wurden sechs Varianten der HM2, unter anderem auch mit einem Gehäuse aus Saphirglas, produziert.

Es folgten Modelle, die technisch ebenso anspruchsvoll, deren Optik mitunter aber noch einige Nuancen verspielter war: Die HM4, zum Beispiel, eine Rennfahreruhr, deren Design von der Flugzeugmodellbau-Passion von Max Büsser inspiriert ist und an einen Thunderbolt-Kampfjet erinnert. Oder die HM6 mit biomorphen Formen, halb Raumschiff, halb Insekt, ausgestattet mit einem fliegenden Tourbillon. Bei diesem Modell dienten japanische Anime-Serien als Inspiration. Die HM10 unterdes hat den Beinamen „Bulldog“, mit einer Gangreserve-Anzeige in der Optik eines sich öffnenden und schließenden Hundekiefers, während die Augen der horologischen Bulldogge Stunden und Minuten Anzeigen. Als Kind sei er ein ziemlich introvertierter Nerd und Träumer gewesen, erzählt Büsser gern – und habe sich oft in seine ganz eigene Fantasiewelt zurückgezogen. Aus dieser Welt zieht er heute für MB&F Inspiration.

Die neuste Variante einer horologischen Maschine ist die HM11 „Architect“, deren Design an die Architektur der 1960er-Jahre erinnert. Sie sieht aus wie ein Bungalow mit vier winzigen „Räumen“, die jeweils eine Anzeige beherbergen, darunter neben der Uhrzeit auch eine Temperaturanzeige.

Was alle horologischen Maschinen dabei eint, sind ihre expressiven Formen, die jeden Uhrmacher in den Wahnsinn treiben müssen, der sich an klassisch-runde Gehäuse als Gefäße für seine Arbeit gewöhnt hat. Wenn diese „Horological Machines“ also das Herz von MB&F sind, dann sind die „Legacy Machines“ die Seele des Hauses. Sie tragen dazu bei, die Marke einem größeren Kreis von Sammlern zugänglich zu machen. Schließlich werden sie in (homöopathisch) größeren Stückzahlen produziert, vor allem aber haben sie eine vergleichsweise klassische Optik – immerhin sind sie rund! Die Idee hinter diesem zweiten Standbein der Marke ist schlüssig: Traditionelle Elemente der Uhrmacherei werden mit dem dreidimensionalen Selbstverständnis einer MB&F-Maschine kombiniert.

Das Uhrwerk für die erste „LM“, die LM1, wurde von Kari Voutilainen und François Mojon entwickelt und 2011 präsentiert. Auf zwei Zifferblättern können zwei verschiedene Zeitzonen dargestellt werden, und über ihnen schwebt zentral die fliegende Unruh, die längst zum Erkennungszeichen aller Modelle der Legacy-Machine-Linie geworden ist.

Für den unternehmerischen Erfolg und die öffentliche Wahrnehmung sind die LM-Modelle seitdem wesentlich. Die LM101 beispielsweise gilt als die innerhalb der Kollektion am stärksten nachgefragte Uhr überhaupt: Sie zeigt die Zeit und die Gangreserve an, fertig. Mit 40 Millimeter Durchmesser ist sie zudem eines der zierlichsten Modelle der Kollektion. Für MB&F ist diese Uhr auch deshalb von großer Bedeutung, weil sie die erste Uhr ist, die entgegen Büsser’s Gewohnheiten komplett vom inzwischen gewachsenen Team entwickelt wurde. Heute stellt dieses Modell den preislichen Einstieg in die wilde Gedankenwelt von Max Büsser und seinen Freunden dar.

Uhrmacherisch lösen unterdes zwei andere Modelle extreme Begehrlichkeiten aus: Die Legacy Machine Perpetual und die Legacy Machine Sequential Evo, beide sind mit herausragenden und preisgekrönten Uhrwerken vom Uhrmacher Stephen McDonnell ausgestattet. Den Ewigen Kalender hat dieser so entworfen, dass der Mechanismus nicht durch falsche Bedienung zerstört werden kann. Seinen Chronographen darf man unterdes als einen der besten und innovativsten der Welt bezeichnen, letztlich vereint er zwei Chronographen in einem Gehäuse, die jeder für sich Zeiten stoppen können, aber mit Hilfe eines „Twinverters“ auch im Verbund agieren, und so die Messung von Zwischenzeiten ermöglichen.

Der zweite Max – ein Talent für die Zukunft.

In kurzer Zeit ist so eine beachtliche Vielfalt an horologischen Konzepten und Kompetenzen entstanden. Entsprechend hoch sind die Erwartungen für die kommenden Jahrzehnte. Auch wenn das Unternehmen seine Initialen im Markennamen trägt, und der Gründer noch keine 60 Jahre alt ist, macht sich Maximilian Büsser darum bereits intensive Gedanken um die Zukunft seines Lebenswerks. Vergnügt führt er im Gespräch aus, dass klammernde Gründer für viele Unternehmen zum Problem werden. Er selbst habe sich lange gar nicht den Luxus erlauben können, sich über seine Nachfolge Gedanken zu machen. Zu groß waren die allgegenwärtigen Herausforderungen. Nun aber befindet sich MB&F in einer Position der Stärke, und aus dieser Position heraus will Büsser nicht nachlassen, sich ausruhen oder gar arrogant werden, sondern noch kreativer, überraschender und den Kunden zugewandter werden. Obendrein hat er zwei junge Töchter, für die er als Vater da sein möchte. Also gilt es neue Talente zu fördern, zumal: „Die Wissenschaft geht davon aus, dass man die größte disruptive, kreative Schaffenskraft mit Ende 20, Anfang dreißig hat. Danach geht es nicht gleich steil bergab, und man kann mit Erfahrung natürlich vieles ausgleichen, aber irgendwann reicht auch das nicht mehr. Viele hochkreative Menschen werden deshalb im Alter extrem unglücklich und verbittert. Der einzige Weg das zu vermeiden ist es als Tutor oder Mentor am Erfolg des Nachwuchses zu partizipieren.“

Als Creative Director hat er darum Maximilian Maertens zum Kronprinzen gemacht. Büsser lobt: „Max ist unglaublich talentiert, ohne daraus ein übergroßes Ego zu entwickeln.“ Max Nr. 2 fing vor acht Jahren als Praktikant bei MB&F an. Danach machte sich der deutsche Industriedesigner mit einem eigenen Designbüro in Berlin selbständig, hielt aber immer Kontakt zu Büsser. Maertens erzählt: „Ich habe ihn mit unzähligen Ideen für Projekte bombardiert.“ Und dieser beauftragte ihn immer wieder und immer mehr. Unter anderem entwarf Maertens Tischuhren für ihn, die Modelle T-Rex und Orb tragen seine Handschrift, und im kommenden Jahr soll nun die erste auf seinen Ideen basierende Horological Machine lanciert werden. Klar, Maertens hätte auch als Designer für eine große Konzernmarke anheuern können, aber er ist sich sicher: „Dort hätte ich dann heute schon genau gewusst wie die nächsten 25 bis 30 Jahre ausgesehen hätten.“ Der MB&F-Ansatz aber verspreche ein deutlich spannenderes Leben und sei obendrein auch außerhalb der Uhrenwelt unvergleichlich.

Als Nachfolger von Maximilian Büsser will Maximilian Maertens sowohl die Unternehmenswerte bewahren als auch die MB&F- Geschichte weitererzählen. Und nein, sagt Maertens, er kenne keine Scheu den von seinem Mentor geprägten Kosmos zu erweitern, auch wenn beide die Begeisterung für Elemente aus Motorsport und Fliegerei verbindet. Er gibt zu: „Die Projekte hier sind für mich auch eine Form der Selbsttherapie. Was mich als Kind und Jugendlicher und als Twen beschäftigt hat – all das wird man auch in den Uhren sehen.“ Als Gestalter liebt er die unzähligen Möglichkeiten, die ihm die Arbeit an den Horologischen Maschinen ermöglicht. Er erklärt: „Auch an einem Stuhl kann man viel gestalten, aber am Ende sollte man darauf sitzen können – sonst wird der Stuhl zum Kunstwerk. Unsere Uhren aber sind aus ihrem Selbstverständnis heraus schon Kunstwerke, und weil der Maßstab so klein ist, kann ich mich komplett austoben. Ich verstehe mich hier also mehr als Künstler denn als Designer.“

DIE M.A.D. Galaxie: Werkstatt, Galerie, Kommandozentrale

Derart besondere Produkte benötigen besondere Vertriebswege. In Genf und Dubai betreibt man darum so genannte M.A.D. Galleries, in denen nicht nur MB&F Produkte verkauft werden, sondern auch mechanische kinetische Exponate unterschiedlichster Art, hergestellt von befreundeten Künstlern. Verstärkt werden diese Galerien vom Konzept des MB&F Lab, einer Markenboutique, in der eine kleinere Auswahl Kunstwerke als in den Galerien erhältlich ist. Solche Labore finden sich aktuell in Paris, Singapur und Taipei, in Beverly Hills und dem Silicon Valley.

Das Mutterschiff der Marke aber steht in Carouge, einer an Genf grenzenden Gemeinde: Im M.A.D. House, einer renovierten Villa, befindet sich seit zwei Jahren das Zentrum der Kreation von MB&F sowie die Werkstätten der Uhrmacher. Der Legende nach war Max Büsser auf der Suche nach neuen Räumen für sein wachsendes Unternehmen, und besichtigte dafür eine fürchterlich zweckmäßige und somit langweilige Bürofläche in einem schlicht-funktionalen Bürogebäude. Aus den Fenstern dieser Büros erblickte er auf einer grünen Wiese die heutige MB&F-Zentrale, und erklärte dem Makler, dass die heruntergekommene Villa dort drüben einfach sehr viel mehr dem entspräche, was er sich für seine Mitarbeiter und sein Unternehmen vorstellen würde. Zufälligerweise gehörte dem Eigentümer des Bürogebäudes auch diese Immobilie.

Eine exzessive Renovierung später präsentiert sich das Gebäude nun als „M.A.D. House“, und der Name lässt erahnen: So klassisch die Villa von außen wirken mag, so angenehm anders präsentiert sie sich von innen. Das Gebäude ist halb Wolkenkuckucksheim, halb Verbindungshaus für die inzwischen 70 Frauen und Männer von MB&F. Hochmodernes Interior trifft auf Fachwerk-Optik, Regale voller Skulpturen und Installationen auf die Werkstätten der Uhrmacher. Letztere sitzen im Erdgeschoss, weiter oben haben Marketing, R&D, Vertrieb und auch Maximilian Büsser ihre Büros. Alles, was die Marke ausmacht, kommt hier zusammen. Es ist ein Hort der Kreativität und Qualität. Vor lauter schräger M.A.D. Gedanken und dem Streben nach kindlichem Einfallsreichtum soll und darf man sich das Büsser-Team dabei nicht als Erwachsenen-Kindergartengang mit Peter-Pan-Syndrom vorstellen. Eine unabhängige Uhrenmarke ist schließlich keine Werbeagentur, bei der das Team möglichst viele Freizeiträume und Tischtennisplatten zum frei denken braucht – nicht einmal bei MB&F.

Stattdessen hat Maximilian Büsser einen herausragenden Blick für Menschen, und vor allem dafür, wer einen wertvollen Beitrag zum MB&F-Kosmos beitragen kann und will. Er erzählt von einem Kunden, der verwundert festgestellt hätte: „Gründer sind selten Missionare. Und wenn sie es sind, dann werden sie früher oder später von knallharten Söldnern ersetzt. Oder sie umgeben sich zumindest mit welchen. Ihr hier aber seid alles Missionare – das habe ich so noch nirgendwo erlebt.“ Büsser bestätigt: „Meine Mitarbeiter sind letztlich nicht angetrieben von Geld, Titeln oder weil es im Lebenslauf gut aussieht. Sie sind dabei, weil sie Teil des gemeinsamen Abenteuers sein wollen.“

The Tribe – der Stamm der Uhrenverrückten

Was wenig verwundern wird: Ein Unternehmen voller Missionare hat auch einen ganz eigenen Umgang mit den Kunden. Diese organisiert man in „The Tribe“, dem Stamm, für den sich jeder Besitzer einer MB&F registrieren kann. Dabei ist es egal, ob die Uhr neu oder auf dem Zweitmarkt erworben wurde. Rund 1.500 Kunden gibt es inzwischen weltweit, und diese werden vom M.A.D. House aus stetig mit Informationen rund um ihre Sehnsuchtsmarke versorgt. Sie haben bevorzugten Zugriff auf die Produkte des Hauses, und werden zu Events im Rahmen der Dubai Watch Week bis zur Watches & Wonders eingeladen. Sie erzählen im MB&F-Podcast „Tales from the tribe“ ihre Geschichten, und einmal im Jahr werden einige von ihnen sogar auf eine exklusive Reise eingeladen: Die Tribe war mit Stammesangehörigen unter anderem auf den Malediven und den Turks & Caicos.

Entsprechend einzigartig sind dann auch die Aktionen zum 20. Jubiläum. Unter anderem wurde unter allen Besitzern eine Sonderedition von zehn Exemplaren der LM101 verlost, einer MB&F mit einem Wert von jeweils 75.000 Euro. Für jede Uhr im Besitz gab es ein Los. Und wer nicht gewann durfte sich trotzdem freuen: Jedes Tribe-Member bekam ein Geschenk zum Jubiläum, einen hochwertigen Caran-D’Ache-Bleistiftanspitzer, der von MB&F und Maximilian Maertens mit metallenen Dinosaurier-Füssen aufgewertet wurde. Diese machen aus dem Nutzgegenstand ein verspieltes Kunstwerk, und damit: Typisch MB&F.

All das soll zugleich nur der Anfang sein. Am liebsten möchte Maximilian Büsser mit seinen Freunden eine M.A.D.-Galaxie schaffen, und jeden mit jedem vernetzen. Er will den Stamm der Freunde von MB&F ausbauen und an den Gedanken gewöhnen, dass diese Galaxie nicht allein Uhren oder kinetische Objekte und Automaten umfasst, sondern vor allem eine Frage der Geisteshaltung ist, die eine Begeisterung für jegliche Form von herausragenden handwerklichen Objekten umfasst.

Die M.A.D. Editions. Eine zweite Marke als Verstärkung

Unabhängige Uhrmacherei erlebt seit den Covid-Jahren einen Hype. Gleichzeitig ist dieses Segment immer noch ein Nischensegment innerhalb der ohnehin schon nischigen Welt der Feinuhrmacherei. Hinzu kommt, dass die Herstellung von anspruchsvollen Uhren auf MB&F Niveau äußerst kostspielig ist, was sich in den Verkaufspreisen wiederspiegelt, was wiederum dafür sorgt, dass viele Bewunderer der Marke nur von den Uhren träumen können.

Um die Welt von MB&F zu erweitern, sie einem ganz neuen Kundenkreis zugänglich zu machen, und um sich selbst mit dieser Marke ein zweites Standbein mit signifikanten Stückzahlen, Umsatz und auch Gewinn zu schaffen, gibt es seit 2021 die M.A.D. Editions. Es sind Uhren mit einem geringeren Aufwand, aber der unverkennbaren MB&F-DNA. Gemacht für Freunde, Familie und Fans stärken sie die Marke und machen sie noch bekannter. Edition 1 mit seiner Fidget-Spinner-Optik und der Zeitanzeige auf der Gehäuseseite wurde auf Basis eines modifizierten Miyota-Kalibers entwickelt.

Edition 1S wurde allerdings bereit mit einem La Joux-Perret-Kalibers G101 Kaliber ausgestattet. Edition 2 mit der springenden Stunde lief ebenfalls auf Basis des La Joux-Perret-Kalibers G101. Die Preise dafür liegen, je nach Variante, aktuell bei circa für 2.900 Schweizer Franken plus Mehrwertsteuer.

Verkauft werden diese Modelle dabei wie besonders begehrte Turnschuhe und Street-Art-Kunstwerke: Via Raffle. Der Kunde erklärt sein Interesse an der Uhr online, und unter allen Bewerbern werden die verfügbaren Editions verkauft. Denn die Nachfrage auch nach diesen Uhren ist immer größer als die Produktion. Obendrein schürt es natürlich noch einmal die Begehrlichkeit – und den Coolness-Faktor. Einfach kaufen ist schließlich einfach, aber wie schön ist es zu gewinnen?

Unabhängig gewinnt – oder?

Keine Kompromisse. Wer sich in der Welt der unabhängigen Uhrmacherei umhört, wird diese beiden Worte immer wieder hören. Keine Kompromisse. Stark bleiben, an sich glauben, nichts verwässern. Die vielleicht größte Leistung beim Gesamtkunstwerk MB&F ist dann auch die Tatsache, dass die Kreationen von Büsser und seinen Freunden unglaublich vielfältig sind, und trotzdem immer auf den ersten Blick als Teil der MB&F-Galaxie zu identifizieren. Die zweitgrößte Leistung ist, dass man sich finanziell nicht nur durch das deutlich gestiegene Interesse an unabhängiger Uhrmacherei besser aufgestellt hat, sondern mit den Uhren der M.A.D. Editions eine Zweitmarke aufgebaut hat, die genug Umsatz und Gewinn generiert um sich an anderer Stelle kostspielige Ideen mit ungewisserem Ausgang zu gestatten. Obendrein hat sich Chanel am Unternehmen beteiligt, mischt sich aber dem Vernehmen nach nicht ein, und lässt die Missionare aus dem M.A.D. House einfach weitermachen. Warum auch nicht?

Nach den Gesprächen mit Maximilian Büsser und Maximilian Maertens, und nach mehreren Besuchen in beiden M.A.D. Galleries sowie dem M.A.D. House bleibt das Gefühl, dass MB&F ein Solitär unter den unabhängigen Uhrenmarken ist. Alles, was man hört und sieht und spürt, wirkt ebenso ehrgeizig wie verspielt, ebenso lässig wie streberisch, und irgendwie scheint sich MB&F eine ganz eigene, bessere Uhrenwelt geschaffen zu haben. Eine Welt, in der es cool ist, freundlich zu sein. In der Natürlichkeit und Begeisterungsfähigkeit mehr bedeuten als Status und Prestigedenken. Natürlich fallen die „Horological Machines“ und „Legacy Machines“ auf, nicht jeder kann mit ihnen etwas anfangen, aber jeder mit Sinn für Uhrmacherei respektiert sie.

Rein gar nichts an diesen Maschinen fürs Handgelenk ist dabei kindisch, aber sollte ein Kind einmal fragen, warum man sich denn überhaupt für Uhrmacherei interessiert, dann ist die Geschichte von Max Büsser und seinen Freunden eine ziemlich gute Antwort.


mbandf.com

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