Im Jahr 2011 erwarb Cartier in La Chaux-de-Fonds, unweit der Uhrenmanufaktur ein Bauernhaus aus dem 17. Jahrhundert, renovierte es liebevoll und erschuf ein Atelier, in dem sich die Maison vorrangig der traditionellen Handwerkskunst widmet. 2014 waren die Renovierungsarbeiten abgeschlossen – Edelsteinfasser und Emaillierer zogen ein, um mit Engelsgeduld, sehr viel Erfahrung und geschickten Händen die atemberaubendsten Kreationen der Maison zum Leben zu erwecken. Cartiers Maison des Métiers d’Art ist ein Ort, an dem Tradition und Innovation verschmelzen – ohne dabei Trends zu folgen. Zum 10-jährigen Bestehen der Maison des Métiers d’Art von Cartier sprachen wir mit Senior Vice President Arnaud Carrez und Image, Style und Heritage Direktor Pierre Rainero über die Entwicklung, Herausforderungen und besonderen Kreationen des Ateliers für Handwerkskünste bei Cartier.
Senior Vice President Arnaud Carrez und Image, Style und Heritage Direktor Pierre Rainero
König der Formen
„King of Shapes“ wiederholt Arnaud Carrez, der bereits seit 27 Jahren bei Cartier ist, immer wieder in unserem Gespräch. Es fasst in einem Slogan zusammen, was Cartier sich in den vergangenen über 150 Jahren aufgebaut hat. Und damit hat er natürlich recht – es gibt wohl kein Uhrenhaus, das so viele Uhrenikonen mit verschiedensten Formen kreiert hat wie Cartier: Santos, Tank, Asymétrique, Crash, Panthère, Ballon Bleu und viele weitere. Kollektionen wie die Santos oder Tank mit ihren eckigen Gehäusen sind über 100 Jahre alt und heute immer noch absolut zeitgemäß und stehen unverwechselbar mit der Maison Cartier in Verbindung. Doch Carrez erwähnt auch, dass man vor zirka 15 Jahren den Fokus etwas verloren hat, auf das, was Cartier in Hinblick auf Uhren so stark gemacht hat und man habe das Portfolio mit zu vielen Produktlaunches und High Complications etwas verwässert. „Um 2010 herum lag ein starker Fokus auf Herrenuhren, auf komplizierten Uhren und Sportuhren. Sie erinnern sich vielleicht an die ID One oder ID Two. Gleichzeitig vernachlässigten wir unser Kerngeschäft und die Damenuhren, was wir bald zu spüren bekamen.“ Damit meint Carrez konkret, dass der Marktanteil im Damensegment fiel und der Anteil im Herrensegment stagnierte.
Also entschied man sich vor gut zehn Jahren, den Fokus wieder mehr auf die Wiederbelebung der Ikonen zu legen, statt neue Produktlinien zu erschaffen. „Cartier ist nicht für Sportuhren bekannt. Cartier ist für feine, elegante und anspruchsvolle Uhren bekannt. Wir unterscheiden uns mit unseren unverwechselbaren Uhrenformen von anderen Uhrenmarken und haben hier eine einzigartige und klare Positionierung im Markt.“ Heute ist es die Cartier Prive Kollektion, welche den ikonischten Modelle der Maison gewidmet ist und ihr Erbe in modern interpretierten Ausführungen fortleben lässt. Die Kollektion ist so exklusiv, dass es jeweils nicht mehr als wenige 100 Stück weltweit gibt.
Maison des Métiers d’Art
Zur selben Zeit fiel die Entscheidung, mit der Maison des Métiers d’Art einen eigenen Ort zu schaffen, wo die seltenen Kunsthandwerke bewahrt und weitergegeben werden sollten. Immerhin reicht die Geschichte Cartiers im Bereich der Juwelierkunst zurück ins 19. Jahrhundert, genau genommen 1847. „Die Bewahrung traditioneller handwerklicher Fähigkeiten war schon immer ein zentrales Anliegen des Maison Cartier. Und die Maison des Metiers d’Art ist ein echtes Zeugnis dieses Engagements“, sagt Carrez. Das Savoir-Faire war also schon lange im Haus vorhanden, und wurde schließlich 2014 mit der Gründung der Maison des Metiers d’Art unter einem Dach zusammengebracht. Die traditionellen Handwerkskünste werden meist mündlich an die nächste Generation weitergegeben – es gibt kein Handbuch oder eine Ausbildung dafür. Umso wichtiger ist es, das Wissen auf kurzem Weg zu vermitteln, statt es in den großen Manufakturhallen verhallen zu lassen.
In dem 1.500 Quadratmeter großen Bauernhaus arbeiten heute rund 50 Uhrmacher und Kunsthandwerker, die sich einerseits mit teils jahrtausendealten Techniken auseinandersetzen, aber auch neue, innovative Ansätze verfolgen. Juweliere und Uhrmacher arbeiten hier Hand in Hand. Auch die im letzten Jahr erst vorgestellte Masse Mystérieuse, bei der die Zeiger auf wundersame Weise zu schweben scheinen und das komplette Uhrwerk innerhalb der Schwungmasse verbaut wurde, entstand hier. Acht Jahre Entwicklungszeit stecken in diesem Ausnahmezeitmesser.
Emaille-Techniken, Granulation und Intarsienarbeit
Die Maison des Métiers d’Art von Cartier lässt sich in drei Hauptkategorien unterteilen: die Kunst des Feuers, die Kunst der Metallbearbeitung und die Kunst der Komposition. Die Kunst des Feuers umfasst verschiedene Emaille-Techniken gemalte Emaille, Cloisonné- Emaille, Champlevé-Emaille, Grisaille- Emaille, Grisaille-Emaille mit Goldpaste oder Plique-à-jour-Emaille. Diese Techniken werden seit Jahrhunderten angewendet und werden bei Cartier kontinuierlich weiterentwickelt. Die Kunst der Metallbearbeitung beinhaltet traditionelle Techniken wie Granulation und Filigranarbeit, bei denen Edelmetalle zu filigranen Mustern verarbeitet werden. Cartier hebt diese Techniken durch die Verwendung hochwertiger Materialien wie Gold und Platin auf ein neues Niveau. Die Kunst der Komposition bezieht sich auf die Intarsienarbeit, bei der verschiedene Materialien wie Holz oder Blütenblätter zu kunstvollen Mustern zusammengefügt werden. Wenn Sie sich für die Details dieser Handwerkskünste interessieren, kann ich Ihnen wärmstens den Artikel meiner Kollegin Catherine Bishop ans Herz legen, die Cartiers Maison des Métiers d’Art kürzlich besucht hat.
Um sicherstellen zu können, dass die Kunsthandwerke auch weitgegeben werden können, engagiert sich Cartier seit vielen Jahren mit der Ausbildung von Uhrmachern. 1993 eröffnete die Maison das Institut Horlogerie im Schweizerischen Couvert. Hier werden jährlich 150-200 neue Uhrmacher in den Berufen Uhrmacherkunst und Mechanik ausgebildet. Zusätzlich arbeitet Cartiers Maison des Métiers d’Art mit verschiedenen Ausbildungsstätten in Frankreich und der Schweiz zusammen, mit Schwerpunkt Fassen von Edelsteinen und der Juwelier- und Uhrmacherkunst.
Intarsienarbeiten
Im Dienste der Erforschung neuer Formen
Wenn es um neue Kreationen geht, führt kein Weg vorbei an Pierre Rainero, dem Image, Style und Heritage Direktor von Cartier. Er hütet das Archiv von Cartier wie ein Schatz und es gibt wohl niemanden, der die Geschichte der Maison besser kennt als er. Das bringt aber auch gewisse Herausforderungen mit sich, denn man will bei der Kreation neuer Stücke nicht einfach nur aus der Vergangenheit kopieren, muss aber gleichzeitig eine Menge Spielregeln beachten, um die DNA der Marke zu respektieren. „Einige Handwerkskünste der Métiers d’Art sind mit einer Zeit verbunden, in der sie verwendet oder geboren wurden. Ich denke zum Beispiel an die etruskische Granulation. Die Herausforderung besteht also darin, sie auf eine andere Art und Weise und mit einem zeitgenössischen Ansatz anzuwenden. Cartiers Geschichte und Philosophie steht im Dienste einer Art permanenter Erforschung von Formen, von neuen Formen. Und ich meine Formen im Allgemeinen, es können Farbassoziationen oder Volumen sein, nicht nur das Design von Uhrengehäusen. Es ist unsere Philosophie und wir erforschen sie kontinuierlich.“
Rainero meint damit, dass es auf ein Zusammenspiel von Formen, Farben und Volumen ankommt, um eine neue Kreation zu entwerfen, die den Ansprüchen von Cartier gerecht wird. Und dabei muss man stets beachten, dass das Stück zeitlos bleibt und nicht zu stark einer bestimmten Epoche verhaftet ist. „Wir nutzen den Ausdruck „Rien de trop” – niemals zu viel. Und wir verfolgen diese Philosophie, wenn wir an neuen Designs arbeiten und es erklärt, warum es uns gelungen ist, über Generationen hinweg begehrenswert zu bleiben“.
Zu guter Letzt muss eine neue Kreation auch Schönheit ausstrahlen. Dabei orientiert man sich bei Cartiers Maison des Métiers d’Art nicht etwa an aktuellen Trends, sondern hat seine ganz eigene Vision davon, was Schönheit ist. „Wir vergleichen einen Stil gerne mit einer Sprache. Die Grammatik bildet das Grundgerüst. Und dann gibt es einen Wortschatz, der sich in unserem Fall nur um Ästhetik, Formen und andere Dinge dreht. Und bei einer lebendigen Sprache werden mit der Zeit einige Begriffe des Wortschatzes irrelevant, und einige andere sind immer noch da. Aber auch die Grammatik kann sich weiterentwickeln. Und in unserem Fall entwickelt sie sich wie bei lebendigen Sprachen. In vielen Sprachen gibt es Reformen, die übernommen werden, weil die Grammatik sich weiterentwickelt, um der heutigen Zeit zu entsprechen, und in unserem Fall, unseren Stil betreffend, ist das genau dasselbe. Und wir bei Cartier sind uns dessen voll bewusst, dass sich der Sinn für Schönheit mit der Zeit weiterentwickelt. Was wir heute für schön halten, ist nicht genau das, was wir vor 20 oder 30 Jahren für schön hielten. Wir stellen uns also immer wieder die Frage, wie können wir Objekte kreieren, die die Zeit überdauern. Auch wenn einige unserer Entwürfe tief in unserer Geschichte verwurzelt sind, denke ich, dass sie auch heute noch relevant sind, weil wir uns diese Frage immer wieder stellen.“
Special Order
Neben den in der Regel stark limitierten Kreationen, die aus der Maison des Métiers d’Art hervorgehen, kreiert Cartier auch Einzelstücke für ausgewählte Kunden. Hier bietet das umfangreiche Angebot an verschiedenen Handwerkskünsten zwar viele Gestaltungsmöglichkeiten, doch jede Anfrage wird sorgfältig geprüft und muss zur DNA von Cartier passen. „Es gibt Dinge, die wir ablehnen, sei es die Ästhetik, die nicht unserer Vorstellung entspricht oder politische oder aggressive Tendenzen, denen wir keine Bühne bieten mit unseren Kreationen“, erklärt Rainero. „Die Kundenwünsche bei den Special Orders werden immer anspruchsvoller, da Kunden heutzutage viel leichter Zugang zu Informationen und historischen Referenzen haben, von denen sie sich für ihre ganz eigene Uhr von Cartier inspirieren lassen“, ergänzt Carrez. Auf die Frage, wie man eine neue, jüngere Generation von diesen teilweise jahrtausendealten Handwerkskünsten begeistern kann, antwortet er gelassen: „Wir machen nichts, um speziell einer jungen Kundschaft zu gefallen. Ihnen gefällt bereits was wir machen“.
Wer dann zusammen mit den Designern und Uhrmachern von Cartier seine eigene Uhr kreieren darf, muss viel Geduld mitbringen. Es gibt keine Uhrmacher und Kunsthandwerker, die sich ausschließlich den Special Orders widmen – jede neue Anfrage läuft in den regulären Betrieb mit rein. Je nach Anforderung dauert die Produktion mindesten 1 Jahr. Aber in Cartiers Maison des Métiers d’Art ticken die Uhren eben etwas anders – dafür sind sie aber für die Ewigkeit gemacht.