Christian Lattmann steht bereits am Eingang der Manufaktur, als wir in La Chaux-de-Fonds ankommen und begrüßt uns mit einer Herzlichkeit, als wären wir alte Freunde des Hauses. Es fühlt sich tatsächlich schnell vertraut an, nicht nur, weil die kleine feine Manufaktur eh schon einen familiären Charme versprüht, sondern auch, weil sich der CEO trotz einer lästigen Erkältung die Zeit nehmen wird, uns alle Bereiche der Werkstätten persönlich zu zeigen. Dabei kennt er jeden seiner rund 50 Mitarbeiter beim Namen, er weiß, wer im Urlaub und wer gerade krank ist. Jaquet Droz ist nicht irgendeine Manufaktur in der uhrmacherisch dicht besiedelten Region, sondern der Erfinder der drei wichtigsten mechanischen Androiden, die im 18. Jahrhundert Geschichte schrieben – der Schreiber, der Zeichner und der Musiker sind Meisterwerke ihrer Zeit.
Jaquet Droz Manufaktur im Schweizer Hochjura
CHARLIE DER MAGIER
An dieser Einzigartigkeit hat die Maison Jaquet Droz bis heute nichts verloren. Und die erste beweisbringende Begegnung lässt nicht lange auf sich warten. In einem Präsentationsraum steht ein fast lebensgroßer Automat, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Johnny Depp hat. Lattmann stellt den vermeintlich prominenten Gast vor. Es ist Charlie, einer der modernen Androiden von Jaquet Droz. Er soll die Figur Willy Wonka aus dem Film „Charlie und die Schokoladen-Fabrik“ darstellen, gespielt von Johnny Depp. Charlie, in diesem Fall ein Magier, wurde 2013 als Attraktion für die Baselworld zum Leben erweckt und verblüfft seither Besucher der Manufaktur mit seinen Hütchentricks, ganz nüchtern und friedsam, anders als sein lebendiges Konterfei. Charlie ist natürlich schön anzusehen und marketingwirksam, inzwischen stellt Jaquet Droz aber sein Savoir-Faire vielmehr in Kleinformaten unter Beweis.
Charlie lässt Uhren verschwinden – er ist aber kein Dieb, sondern Magier
Im Jahr 2000 wird Jaquet Droz von der Swatch Group übernommen und erwacht nach einigen Jahrzehnten aus dem Dornröschenschlaf zu neuem Leben. 2010 bekommt die Maison eine neue Manufaktur im Herzen des Schweizer Jura, wo vor über 280 Jahren alles begann. Im Jahr 2011 wird das ‚Ateliers d’Arts‘ gegründet – es soll das Fortbestehen von altüberlieferten Kunsthandwerken garantieren. Hier werden in erster Linie Miniaturmalerei, Bildhauer- und Gravurkunst oder auch die Paillonné-Technik gefördert. Mit dem Modell The Bird Repeater präsentierte Jaquet Droz 2012 den ersten modernen Automaten in einer Armbanduhr. Im ‚Ateliers d’Arts‘ verschmelzen Zifferblatt-und Automatenkunst miteinander.
DREI MECHANISCHE PUPPENAUTOMATEN
Jaquet Droz wird im Jahr 1738 in La Chaux-de-Fonds von dem Uhrmacher Pierre Jaquet-Droz gegründet. Er produzierte eine Serie von Standuhren, ehe er damit begann, seine Uhrwerke mit Musik und Automaten auszustatten. Das gefiel vor allem der wohlhabenden Schicht und Pierre Jaquet-Droz beginnt damit, die Welt zu bereisen um seine Automaten bei Hof und Adel in Szene zu setzen. Unterstützt von seinem Sohn Henri-Louis und dem Nachbarssohn Jean-Frédéric Leschot brachte das Haus Jaquet Droz und Leschot immer fortschrittlichere Androiden auf den Markt. Den Höhepunkt erreichten sie mit den drei Puppenautomaten – der Schreiber, der Zeichner und der Musiker, die 1774 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wurden und auch heute noch im örtlichen Kunsthistorischen Museum voll funktionsfähig ihre Arbeit verrichten: jeden ersten Sonntag im Monat für Museumsgäste. Für uns machen die drei Püppchen ausnahmsweise Überstunden.
Wohingegen Charlie einen elektrischen Antrieb hat, laufen die drei Puppenautomaten ausschließlich mechanisch. Aus über 4000 Komponenten bestehen die antiken Rechner. Sie gelten mit ihren programmierten Speichern als die Vorläufer der modernen Computer. Der Zeichner ist sogar in der Lage, eine komplexe Skizze eines Schmetterlings anzufertigen, der einen Engel auf einer Kutsche zieht – eine Hommage an die Liebe und Leidenschaft und ein Motiv, das sich später in den modernen Uhrenautomaten wiederfinden wird.
280 JAHRE FIRMENGESCHICHTE IN EINER TASCHENUHR
Zum 280-jährigen Jubiläum stellte die Manufaktur 2018 mit der Taschenuhr Parrot Repeater Pocket Watch alles bislang Gesehene in den Schatten. Sie verkörpert eindrucksvoll 280 Jahre Firmengeschichte in einem einzigen Stück.
Das Meisterstück von Jaquet Droz – Parrot Repeater Pocket Watch
Drei Jahre lang hat dieses außergewöhnliche Einzelstück die Hände jedes Uhrmachers und Kunsthandwerkers in den Werkstätten mindestens einmal gesehen. Jedes künstlerische Knowhow der Manufaktur ist irgendwo in oder auf dieser Uhr vorhanden. Miniaturmaler, Skulpteure und Graveure bepinselten Quadratmillimeter winzige Flächen, schnitzten menschenhaarschmale Figürchen und veredelten Zifferblätter mit Grand-Feu-Email und ihrer Paillonné-Technik, bei der eine Gold- oder Silberfolie unter die Emaille aufgebracht wird und Motive zum Glänzen bringt.
Das Haute Horlogerie-Kaliber besteht aus 668 Komponenten mit Minutenrepetition, die den Glockenschlag einer Kathedrale ertönen lässt. Über einen Schieberiegel bei 9 Uhr setzt sich das bunte Schauspiel in Bewegung. Die Geschichte erzählt von einem Papageien-Paar mit seinen drei Jungen, wovon einer gerade aus einem Ei schlüpft, umgeben von einem Dschungel aus Lianen und Hibiskus, bunten Paradiesvögeln und einem Wasserfall, an dem ein Tiger seinen Durst stillt. Die Natur hat schon immer einen besonderen Stellenwert bei Jaquet Droz.
Minutenrepetition und Automat in einer Taschenuhr
Die Uhrwerke kommen von der Schwestermarke Blancpain, die genauso wie Jaquet Droz unter dem Mutterkonzern Swatch Group firmiert. Hier bedient man sich am Knowhow aus der Gruppe und widmet sich lieber ganz der Herstellung der Automaten-Mechanismen und Förderung der seltenen Handwerkskünste. Alle Zifferblatt-Komponenten und auch die Automaten werden in den Werkstätten hergestellt.
Zwei Uhrmacher kümmern sich darum, dass Werke, Automaten und Dekor zu einem Stück werden. Sie beherrschen alle Arbeitsschritte, von der Mechanik bis hin zur Montage des Zifferblatts, was eine spezielle Ausbildung erfordert, die es so nur bei Jaquet Droz gibt und rund vier Monate in Anspruch nimmt. Und darauf ist Lattmann besonders stolz, denn es spornt neue Uhrmacher an, teil etwas ganz Einzigartigem zu sein. Sein jüngster Uhrmacher beherrscht seit Kurzem auch die Komplexität einer Minutenrepetition, die als Königsdisziplin unter den Komplikationen gilt.
Fabel(hafte)-Wesen – ein Schmetterling, der einen Engel auf einer Kutsche zieht
Auch wenn die Werke zugeliefert werden, findet die Kontrolle und Montage im eigenen ‚Atelier de Haute Horlogerie‘ statt. Aber auch die Automaten haben einen ganz eigenwilligen Mechanismus, den es zu beherrschen gilt. Sie funktionieren mit winzigen Zylindern, die durch Luftdruck die Komponenten in Bewegung setzen und Vögel zum Singen bringen (Charming Bird). Welchen Ton sie genau abgeben, hängt von der Geschwindigkeit der Kolben und der Größe des Blasebalgs im Zylinder ab. Einer der Zylinder dient als Pumpe, der die Luft generiert. Ein weiterer Zylinder speichert die komprimierte Luft und leitet sie portionsweise an einen dritten Zylinder weiter, der wie eine Pfeife geformt ist und den Ton erzeugt. Angetrieben wird die Pumpe von einem speziell konstruierten Oszillator.
Eine Visualisierung des ‚Charming Bird‘ Mechanismus
VOM WACHTELEI ZUM ELEFANTEN
In der Manufaktur laufen Qualitätsmanagement, Produktion, Montage und sogar Restauration zusammen. Der magische Bereich bleibt aber das ‚Ateliers d’Arts‘, wo die Miniaturkunstwerke entstehen. Auf den aufwendig gestalteten Zifferblättern werden Mineralien wie Aventurin, Cuprit, Schiefer, Onyx oder Lapislazuli verarbeitet. Auf einem anderen Modell werden tausende winzige Mosaiken aus lackierten Wachteleierschalen so lange sortiert und zusammengesetzt, bis daraus ein Elefantenmotiv entstanden ist.
Ateliers d’Arts – ein Labor für Künstler
Seerosen, Lotusblüten und bewegliche Koi-Karpfen, die mit der Schwanzflosse rudern, werden hier geformt, geschnitzt, bemalt und auf die dreidimensionalen Zifferblätter aufgetragen, die wie kleine Theaterbühnen wirken. Die Miniaturmaler zerdrücken in einem Mörser stundenlang bunte Steine zu einem feinen Puder, welches angereichert mit Wasser auf die Zifferblätter aufgepinselt winzige Gemälde entstehen lässt. Gravuren und Motive werden immer freihändig gearbeitet, lediglich Zeichnungen dienen als Vorlage.
Ein Großteil der Zifferblätter besteht aus verschiedensten Grand-Feu-Emaille Techniken – sie sind bei Jaquet Droz nicht mehr wegzudenken. ‚Champlevé Enamel‘ zum Beispiel, ein Verfahren, bei dem winzige Gruben in die Oberfläche einer Metallunterlage geschnitzt und mit flüssiger Glasemaille gefüllt werden, bevor sie im Ofen aushärten.
Eine Handwerkskünstlerin im Atelier hält ein Zifferblatt mit Fensteremaille ins Licht – wohingegen normalerweise Emaille immer auf einen Metalluntergrund aufgetragen wird, wird das Emaille hier nur zwischen Metallstege eingeführt und gebrannt. Im Anschluss ist es transparent und lässt ungehindert Licht durchdringen.
BEI JD SINGEN DIE VÖGEL ZU JEDER JAHRESZEIT
Nun ist es nicht verwunderlich, dass nur wenige tausend Uhren die Werkstätten im Jahr verlassen, davon sind viele Modelle auf 8, 28 oder 88 Stück limitiert. Die Ziffer „8“ ist übrigens überall präsent bei Jaquet Droz und eine Anspielung auf die Taschenuhren „Grande Seconde“ von Pierre Jaquet Droz aus dem Jahr 1784, bei denen die Anordnung der großen Sekunde und kleineren Stundenanzeige auf dem Zifferblatt in Form einer „8“ dargestellt waren. Die Mischung aus arabischen und römischen Ziffern sowie das klare Design zeichnen diese Kollektion aus. Neben den Stücken aus der Kollektion ‚Automaten‘ und ‚Ateliers d’Art‘ sind sie die beliebtesten Uhren der Maison.
Jaquet Droz Grande Seconde
Am Ende des Besuchs ist man fast ein wenig gefasst vom Momentum; infiziert von der handwerklichen Arbeitsweise der Künstler, von ihrer Genügsamkeit, die sie ausstrahlen, von ihrer Hingabe und der Stille, in der sie mitten in einer friedlichen und intakten Natur keinen schnelllebigen Trends hinterherjagen. Es ist sicherlich schön, ein solches Stück Zeitgeschichte von diesem Flecken Erde am Handgelenk zu tragen.
Jaquet Droz Bird Repeater
Christian Lattmann lässt es sich nicht nehmen uns noch hinauszubegleiten. Es ist kalt geworden an diesem Oktobernachmittag als wir die Rückreise antreten. Im Hochjura bereitet man sich auf den Winter vor, der lang und hart sein kann. Doch bei Jaquet Droz singen die Vögel weiter, das ganze Jahr.