Wie es das Schweizer Uhren-Startup Norqain innerhalb kürzester Zeit in die Auslage von Wempe schaffte. Darüber berichtet unser Autor Joern F. Kengelbach am Beispiel der letzten Wempe Signature Collection des Jahres 2024, die natürlich in Zusammenarbeit mit genau diesem, dem besonders heiß gehandelten Uhren-Startup der letzten Jahre entstanden ist.
Erfolgsgeschichten sind ja im Nachhinein immer besonders einfach zu begründen. Wie oft habe ich in den letzten 20 Jahren von schreibenden Kollegen den Satz gehört: Ja, das war ja klar, dass dieser oder jener Erfolg mit diesem Produkt oder jenem Team erreicht werden konnte! Klar, von den Marken, die es nicht geschafft haben, spricht ja auch keiner. So bleibt am Ende eine mechanische Welt voller toller Erfolgsgeschichten übrig.
Wieso führt Wempe so eine junge Uhrenmarke?
Scherz beiseite. Das hier ist wirklich eine Erfolgsgeschichte! Wie in Gott-Chronos Namen, frage ich mich dennoch, während ich die derzeit wohl beeindruckendste Veranstaltungshalle Deutschlands betrete, hat es diese mir bis dato völlig unbekannte Marke Norqain bitte geschafft, von einem der renommiertesten Juweliere der Welt in das Sortiment aufgenommen zu werden? Und zwar 2019, nach nur einem Jahr des Bestehens und nicht, wie sonst bei Wempe Standard und Voraussetzung gelistet zu werden: Nach rund 40 Jahren!
Der Frage kann ich hier nahe München und an diesem Abend entspannt nachgehen, denn Wempe hat nicht nur Norqain in zehn Niederlassungen hierzulande aufgenommen (darunter als erstes die Niederlassung in der Weinstraße in der bayerischen Hauptstadt neben Berlin, Hamburg, Düsseldorf, Köln, Dortmund, Stuttgart und Leipzig) – sondern man zelebriert diesen Abend mit geladenen Gästen mit einem auf nur 50 Exemplare limitierten Sondermodell im Rahmen seiner 2022 erstmals vorgestellten Wempe Signature Reihe: Damit reiht sich dieses Norqain-Modell auch noch gleich ein in den Olymp von bedeutenden Marken wie Girard-Perregaux, Breitling, Hublot, Chopard, Nomos, Ulysse Nardin oder Parmigiani Fleurier. Wer nach Zeilenhonorar bezahlt wird, freut sich zusätzlich über den langen Namen: Die neue Automatikuhr heißt “Wempe Signature Collection x Norqain: Independence Wild One 42”.
Woher stammt der Name Norqain?
Doch bevor die Uhr spektakulär von Scott Wempe und dem CEO von Norqain Ben Küffer im sogenannten Bergson Kunstkraftwerk – einem ehemaligen Heizkraftwerk – enthüllt wird, googele ich lieber noch mal schnell, woher der Markenname eigentlich stammt? Nein, nicht Bergson, der bezieht sich auf den französischen Literaturnobelpreisträger Henri Bergson, der tatsächlich 1911 ein philosophisches Werk mit dem Namen “Zeit und Freiheit” verfasste, sondern die 2018 gegründete Marke Norqain. Ich muss zunächst an Norwegen denken bei ultraleichten Sportuhren aus Kohlefaserwerkstoff.
Charmanterweise findet man im Netz gleich zwei Erklärungen: Laut Webrecherche erfanden die Gründer eine originelle Methode zur Namensfindung: Es beginne mit den sieben essentiellen Eigenschaften, die die Marke ausmachen sollen. Das geht so: N steht für The NEW – Die Lust auf das Neue, O steht für OPEN MINDED – offen für Veränderungen, R für REBELLIOUS – auflehnend gegen etablierte Marken, Q für enjoying QUALITY TIME – und mit Schweizer Uhrmacherkunst im Inneren, A für ADVENTURE – abenteuerlustig, I für INDEPENDENT – unabhängig von einem großen Konzern und schließlich N für Part of a NICHE – ein Nischenbrand, das gegen den Mainstream geht.
Puuh. Geht es Ihnen auch so? Das liest sich so verkopft wie die ewige Suche nach der Frage, warum Rolex eigentlich Rolex heißt. Da greife ich dann doch lieber gleich auf das Swisswatches-Interview mit dem CEO Ben Küffer aus dem Jahr 2023 zurück, in dem er es uns ein bisschen einfacher macht und antwortete: “Ich hatte das Bild der Schweizer Berge im Kopf, weil das die Schweiz widerspiegelt. Wenn wir als junges Schweizer Unternehmen etwas reißen wollen, schien es mir wichtig, die Berge mitzunehmen. Das „NOR“ steht für das Nördliche. Das „QAI“ steht für Quality, Adventure und Independence und spiegelt die für uns wichtigsten Werte wider.“ Geht doch.
Ben Küffer, Gründer und CEO von Norqain
Ein guter Name ist nur ein Baustein des Erfolgs
Keine Frage, das Kunstwort NORQAIN sticht gerade unter vielen klassischen Schweizer Firmennamen hervor, die im wesentlichen alte Familiennamen sind. Die Schweizer Berge finden sich auch im Logo, das zwei stilisierte Bergspitzen zeigt, die gleichzeitig auch zwei entgegengerichtete Buchstaben ‚N‘ ergeben. Das ist zwar smart, doch ein guter Name ist nur ein Teil des Erfolgs (wie jeder Rolex-Sammler weiß).
Wie gut ist die Norqain Wild One?
Im mechanischen Sinne ist diese Uhr jedenfalls smart, die wir bei Swisswatches bereits hier ausführlich beschrieben haben, inklusive der zwei wichtigsten Details: Das eine beschreibt den besonderen Aufbau des 42mm-Gehäuses: Es besteht aus 25 Komponenten. Die Hülle ist aus, Nomen est Omen, Norteq, einem inhouse entwickelten Kohlefaserverbundstoff, der dreieinhalb mal leichter ist als Titan und einem Kautschuk-Stoßdämpfer, der das gesamte Gehäuse im Inneren ausfüllt. Dank dieses Aufbaus macht die Wild One ihrem Namen wirklich alle Ehre und hält angeblich Stöße von bis zu 5000 G aus. Keine Sorge, ich werde es nicht testen, auch wenn die 25 Meter hohe Eventhalle schon sehr verlockend für Fallversuche wäre.
Welches Uhrwerk tickt in der Wempe Signature x Norqain?
Ein gutes Gehäuse ist ja das eine bei einer Uhr, aber entscheidend ist natürlich die Frage, was tickt auch nach einem 10-Meter-Sturz noch im Inneren? Auch hier überrascht die Antwort: In der Independence Wild One 42 Signature Collection arbeitet das von Norqain NN20/1 genannte Automatikkaliber. Es stammt von niemand anderem als dem Schweizer Top-Uhrwerkhersteller Kenissi, der es exklusiv für Norqain entwickelte. Mit einer sehr respektablen Gangreserve von 70 Stunden ist es nebenbei auch noch als Schweizer Chronometer von der COSC zertifiziert.
Moment, denke ich mir, während ich mich mit der knall-türkis-grünen Kreation ins hauseigene Café setze, das abends ein Gourmet-Restaurant ist. Es trägt charmanterweise den Namen “Zeitlang”. Und ich muss tatsächlich eine Zeit lang recherchieren, um alles zusammen zu bringen, warum ein 2018 gegründetes Schweizer Startup im Jahr 2024 bei Wempe (und weltweit insgesamt 300 Verkaufspunkten neben drei eigenen Boutiquen in Zermatt, Zürich und Singapore) gelistet ist und auf Werke zurückgreifen kann, nach der sich die halbe Schweizer Uhrenindustrie die Finger lecken würde.
Warum Georges Kern Norqain dabei half, zu entstehen
Der entscheidende Name, um dieses Rätsel aufzulösen, lautet Breitling. Ja, richtig gelesen. Und nein, es handelt sich nicht um eine weitere Ausgründung des äußerst umtriebigen Monsieur Georges Kern, der derzeit schon genug um die O(U)hren mit dem Comeback von Universal Genève hat. Und doch hat er indirekt dazu beigetragen, dass Norqain überhaupt existiert.
Der wahre Grund für den Aufstieg von Norqain
Hier die Schnellversion und der erste Teil der Erklärung für den kometenhaften Aufstieg der Marke: Erinnern Sie sich noch an Théodore Schneider? 1998 hatte “Teddy” Schneider die Grenchner Uhrenmarke Breitling von seinem Vater übernommen, 2017 musste er sie verkaufen, angeblich, weil seine Schwester ihr Erbe ausgezahlt haben wollte. Die Nachfolger: 80 Prozent gingen an die britische Private-Equity-Gesellschaft CVC, die restlichen 20 Prozent gingen kurz nach dem Deal ebenfalls an CVC und an Georges Kern, der seither Miteigentümer von Breitling ist. Zusammen mit seinem Sohn Ted Schneider unterstützt nun eine der reichsten Uhren-Dynastien der Schweiz junge Unternehmen mit guten Ideen (und gutem Geld). Zu den Startups zählen unter anderem Swissroc, ein Genfer Immobilien-Business und natürlich Norqain mit Basis in Nidau.
Wenn sich mehrere besondere Unternehmer zusammentun
Neben diesem besonderen Aufsichtsratsmitglied Ted Schneider kommen als Frontrunner hinzu: Eishockey-Legende Mark Streit und natürlich Ex-Breitling-Brandmanager und der heutige Norqain-CEO Ben Küffer. Und wie kam Ben Küffer in die Uhrenbranche? Nun, seit Vater Marc Küffer wiederum, der derzeitige Vorstandsvorsitzende von Norqain, war Eigentümer und CEO von Roventa Hennex SA, einem führenden Hersteller von Swiss-Made-Uhren, sogenannte Private Label Uhren. Er war außerdem 25 Jahre lang Mitglied des Vorstands des Verbands der Schweizerischen Uhrenindustrie. Und nein, sein Sohn hat seine Uhren natürlich nicht komplett bei einem Private Label Anbieter produzieren lassen. Später am Abend erklärt er: “Alle strategischen Positionen und den kompletten Service besetzen wir selbst. Wir beschäftigen eigene Uhrmacher, einen eigenen Kundendienst und eine eigene Logistik.“
Norqain knackt die 10.000 Uhren/Jahr-Marke
Soviel Know-how und Liquidität für ein Uhren-Startup muss auch in der Schweiz erstmal zusammenkommen. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Die ersten Modellreihen liefen besser als geplant: Schon im ersten Jahr 2018 wurden statt der angestrebten 1000 über 4000 Uhren verkauft. Dann kam Covid. Inzwischen hat die vollständig in Privatbesitz befindliche Firma aufgehört, über Stückzahlen zu sprechen. Aber unter der Hand ist zu vernehmen, dass man die avisierte Marke von 10.000 Uhren bereits letztes Jahr geknackt hat.
Warum die Norqain Uhrwerke so gut sind
Die Allianz mit Kenissi im Werkebereich adelt die junge Marke. Sie ist der Ritterschlag für Küffer und sein Team: Der Werke-Hersteller in Le Locle wurde immerhin von der 100-prozentigen Rolex-Tochter Tudor gegründet und befindet sich zu 20 Prozent in Besitz von Chanel. Bei der Auswahl möglicher Abnehmer kann Kenissi sich wählerisch geben. Wie passend, dass mit Jean-Paul Girardin ausgerechnet ein einstiger Breitling-CEO auch bei Kenissi der Chef ist. Noch Fragen?
Und dann kam noch ein ganz besonderer Uhrenmanager zu Norqain
Man könnte die Liste von Profis, die dieses junge Unternehmen derzeit unterstützen, noch deutlich länger werden lassen, mal abgesehen von Marketing-Zugpferden wie der Eishockey-Legende Mark Streit. Wir belassen es abschließend mit einem, der so gut wie jedem, der sich in den letzten 15 Jahren mit mechanischen Uhren befasst hat, ein Begriff ist: Jean-Claude Biver. Im Frühjahr 2022 gesellt sich der legendäre Uhrenmanager als Berater zum Verwaltungsrat. Wie CEO Ben Küffer am Wempe-Abend häufiger berichtet, challenged Biver, der einst Blancpain aus der Versenkung hob, Hublot zum globalen Konzern formte und inzwischen mit seiner eigenen Marke reüssiert, die wilden Kerle aus Nidau ganz gehörig. Küffer gesteht: “Der Mann ist der Wahnsinn, aber Norqain braucht diesen Vorwärtsdrang.”
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Jean-Claude Biver?
Wie es zur Zusammenarbeit mit Jean-Claude Biver kam, kann man im Swisswatches-Interview nachlesen, aber es ist einfach zu schön, um es nicht zwei Mal zu veröffentlichen, wenn man diese Manager-Maschine verstehen will: Mitten in Covid, am Osterfreitag 2020 um 06:15 Uhr schrieb Biver Norqain-CEO Küffer eine Nachricht. Er schrieb, dass er von einem Kollegen von der Marke gehört habe. Auf die Antwort, dass man sich jederzeit treffen könne, kam die Biver-Antwort: „Dienstag 8:00 Uhr.“ Zwei Wochen nach dem Treffen habe Biver zurückgerufen und gefordert: „Wenn du eine Uhr machst, die nicht aussieht wie eine, die es schon gibt, dann mache ich mit” und präzisierte: „Kein Stahl, kein Titan – superleichte Sport-Uhren!“ Das Ergebnis ist Türkisgrün und ich trage es den ganzen Nachmittag schon am Handgelenk. So entstand die Wild One.
Norqain setzt weltweit auf kompetente Luxusuhrenhändler wie Wempe
Am Ende des Abends gibt CEO Küffer ein Statement ab, dem wir nur zustimmen können: “Ich glaube an den Fachhandel. Ich glaube, dass eine mechanische Uhr echte Emotionen und Freude auslöst, vor allem dann, wenn man von einem Experten bedient wird.” Das sei für ihn ein ganz entscheidender Punkt. Dass er bei irgendeiner Bank mit so einem Geschäftsmodell zu Beginn des 21. Jahrhunderts wahrscheinlich keinen Cent gesehen hätte, muss ihn nicht kümmern. Dafür weiß er das absolut richtige Team für so ein Schweizer Startup hinter sich.
Scott Wempe, Joern Kengelbach und Ben Küffer
Beim Preis aggressiv, bei der Leistung überzeugend
Also alles geritzt? Der Erfolg des “Wunderkindes der Schweizer Uhren-Startups“, wie ein Uhrenmagazin die Marke Norqain erst neulich wieder nannte, basiert also auf einem guten Management-Team mit ausreichend Kapital? Ist es wirklich so einfach? Wenn man lange genug eine Branche kennt, weiß man auch um die Spielregeln. Die sind bei Uhrenfirmen allerdings nicht anders als bei anderen Startups. Zu einer guten Idee gehört immer auch die richtige Nische bei den Kunden. Bei Norqain sind das extrem leistungsstarke Uhren zu einem heute beinahe unverschämt guten Preis: Die auf 50 Exemplare limitierte, 200 Meter wasserdichte Kohlefaser-Sportuhr kostet mit 4.950 Euro bald ein Drittel bis ein Viertel von gleichwertigen Modellen deutlich bekannterer Schweizer Marken.
Nichts fällt Marken dabei in den Schoß: Das Wissen um mechanische Uhren haben sich alle Beteiligten selbst angeeignet: 11 Jahre arbeitete CEO Ben Küffer in der Schweizer Uhrenindustrie. Natürlich gehört auch Glück dazu, jemanden wie Ted Schneider seit seiner Kindheit als Freund zu haben. Aber das Glück trifft eben besonders gerne die Fleißigen. Ben Küffer kann jedenfalls zurecht behaupten: “Ich bin sehr stolz, wie viel wir innerhalb von sechs Jahren aufgebaut haben.”
Kann Norqain noch mehr?
Und dabei haben wir haben noch gar nicht von Norqains jüngstem Coup gesprochen: Das in Zusammenarbeit mit Sellitas High-End-Abteilung AMT entwickelte 8K Manufaktur-Kaliber. Ein automatisches Chronographenwerk mit Schaltrad-Steuerung, Flyback-Funktion, 62 Stunden Gangreserve und COSC-Zertifikat. Das ganze Werk ist skelettiert ausgeführt und extrem leicht. Der Modellname ist Programm: Independence Skeleton Chrono 42 mm. Der Preis für den Manufaktur-Chronographen: 5.700 Euro. Von dieser zweiten Serie sind nur noch wenige Exemplare erhältlich. Laut Küffer ist die Uhr nicht limitiert, abgesehen von der Produktionskapazität. Anfänglich wurden 300 Exemplare in Auftrag gegeben, eine zweite Charge kommt rechtzeitig zur Genfer Watches and Wonders im April 2025. Ach stimmt, beinahe hätte ich’s vergessen: Dieses Frühjahr durfte sich Norqain als wahrscheinlich jüngste Marke in der Geschichte das erste Mal auf der wichtigsten Luxusuhren-Messe der Welt präsentieren.
Der Gipfel noch fern, aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg
Und übrigens: Falls sich der ein oder andere Sammler beim Betrachten der Räumlichkeiten an ein ganz anderes Unternehmen erinnert fühlt: Richtig gesehen. In genau dieser Location, dem Bergson Kunstkraftwerk, fand Mitte Oktober die wohl wichtigste Uhrenvorstellung des Jahres statt. Niemand Geringeres als Patek Philippe stellte hier exklusiv seine erste neue Kollektion seit 1999 vor: Die Weltpremiere der heiß diskutierten Patek Philippe Cubitus Kollektion fand genau hier statt, wo an diesem Abend Norqain CEO Ben Küffer und Scott Wempe über die nächste Generation der Uhrensammler sprechen. Eins muss man den Jungs lassen. Bis zum Patek-Gipfel ist es noch ein steiler Anstieg, aber sie rocken schon jetzt gehörig das Establishment. Solange Norqain die Verkaufspreise nicht in diese Sphären katapultiert, dürfte den Aufstieg dieser spannenden Manufaktur so schnell niemand stoppen können.